Frank Gaudlitz

Von Angesicht zu Angesicht. Sonnenstraße


Was unerreichbar scheint, hat eine geheimnisvolle Kraft. Man will, dass wenigstens versucht werde, was nicht errungen werden kann.

Alexander von Humboldt

SONNENSTRASSE – LA RUTA DEL SOL

 

Während seiner amerikanischen Reise trifft Alexander von Humboldt um die Weihnachtszeit des Jahres 1801, 65 km nördlich von Pasto in Kolumbien, auf die Sonnenstrasse der Inka. Am Schnittpunkt der heutigen Panamericana mit dem Rio Mayo führt er barometrische Messungen durch, etwa in dem Gebiet, wo der Sage nach, der Inkafürst Huayna Capac 1527 goldene Stäbe ins Flussufer getrieben hatte, um die Nordgrenze seines Reiches zu markieren. Zunächst ohne es zu wissen, reiste Humboldt von da an entlang dieser alten Höhenstrasse der Inka, die auch La ruta del sol – Der Weg der Sonne genannt wird. Ein Jahr später, im Dezember 1802 trifft er in Lima ein.

Es sind um die 2500 Kilometer, die Alexander von Humboldt innerhalb dieses Jahres zurücklegt. Es ist eine langsame Art zu reisen, immer aufmerksam, immer beobachtend. Humboldt und seine Begleiter sind noch Teil des Landes, das sie aufnimmt. Auch ist die Reise verbunden mit dem gezielten Sammeln von Informationen über die lokalen gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Verhältnisse, mit Gesprächen über historische, ethnologische und soziale Fragen, weit über seine eigentlichen Untersuchungsgegenstände hinaus.

Auf die Gesamtschau kommt es ihm an, auf die großen Zusammenhänge der Erscheinungen der Natur aber auch der menschlichen Existenz. Er verfolgt eine holistische Sicht. Gegenüber der schon beginnenden Aufsplitterung des Wissens in unendlich viele Einzeldisziplinen, ist Alexander von Humboldt vielleicht der letzte Forscher, der einen universellen Anspruch hat.

Inspiriert von der Persönlichkeit Alexander von Humboldts bin ich auf der Grundlage seiner Reisetagebücher im Jahr 2010 in sieben Monaten diesen 2500 Kilometern, in denen sich historische Wege und Kulturen überlagern, gefolgt. Meine Reise führte durch unterschiedliche Landschaften, vorbei an den Vulkanen Chimborazo und Cotopaxi, in abgelegene Gebirgsdörfer und koloniale Städte. Vor allem war es eine Reise durch die Zeiten. Oftmals glaubte ich, das zu sehen, was schon Alexander von Humboldt oder Huayna Capac sahen …

Frank Gaudlitz

Kolumbien


Die montaña de Pasto ist ein mit dichtem Wald bewachsenes Gebirge – aber die schrecklichste aller montañas. Grundloser Koth und Hohlwege, daß sich kaum der Leib des Pferdes durchdrängen kann. Dazu Bäume, welche umgestürzt den Weg versperren. In Europa räumt man den Baum aus dem Wege. Hier verändert man den Weg.

Reisetagebuch, Aufenthalt in Pasto, ca. 19. – 22. Dezember 1801


Das freundliche Grün des Guyacán, die schirmkuppigen Mimosen bilden einzelne Gruppen in der Ebene. Bunt gefleckte Stiere ruhen in ihrem Schatten. Sie und die blökenden Herden fürchten hier nicht den weißstirnigen Bär der Anden. Unbekümmert sieht das Mutterschaf die Schar der Bären vorbeiwaten. Die Natur hat jedem seine Speise zugewiesen. Aloeblättrige Achupallas steigen vom schneenahen Gipfel bis in das Klima der Cinchona herab. Die jungen Blätter der Krone reizen den Bären mehr als Schafe und Rinder, und nur bei wüthigem Hunger haben diese zu fürchten. So nimmt in den Tropen alles mildere, friedlichere Form und Sitten an. Nur der Mensch allein bleibt sich überall auf dem Erdboden gleich, sein eigen Geschlecht verfolgend und hassend!

Reisetagebuch, Reise von Pasto durch die Provinz Los Pastos bis Quito, 22. Dezember 1801 – 6. Januar 1802


 

Der Begriff des Naturganzen, das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklangs im Kosmos werden umso lebendiger unter den Menschen, als sich die Mittel vervielfältigen, die Gesamtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten.
Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Band 2, 1847

 

Ecuador


Quito ist vielleicht von allen Ländern Amerikas dasjenige, wo es die meisten Naturtalente gibt. Die Einwohner haben eine gewisse Ungezwungenheit, eine Liebenswürdigkeit, eine Leichtigkeit, alles zu erlernen, die sie vorteilhaft auszeichnet. Man bewundert diese Eigenschaften besonders bei der Jugend. Ein einförmiges Leben lässt diese schönen Anlagen allmählich verkümmern und lässt die Menschen in die Mittelklasse zurücktreten. Man kennt in der Stadt nur die Kirchenfeste, die sehr häufig sind und die mehr Pulver in den Feuerwerkskörpern verbrauchen als der König von Spanien benötigen würde, um sich zum Herrscher über Brasilien zu machen.

Reisetagebuch, Schilderung der Stadt Quito


Am 18 Juni gingen wir von Neu-Riobamba nach Penipe, wo uns der Pfarrer, Don Mariano Tinajero prächtig aufnahm, […]. Nichts ist in diesem Land so alltäglich, wie verheiratete katholische Pfarrer. Sein Vorgänger hatte seine Stelle verloren, weil er aus Meßgewändern Unterröcke für seine Freundin hatte machen lassen; dieser stellte uns unbefangen einen seiner Söhne vor.

Reisetagebuch, Reise von Ambato nach Riobamba, 12. – 17. Juni 1802 und Aufenthalt in Riobamba, 17. – 28. Juni 1802


Unsere Begleiter, von Kälte erstarrt, ließen uns im Stich; nur Bonpland, Montúfar, der Barometermann und zwei Indios mit anderen Instrumenten folgten mir. Die Indios blieben bei 2600 Toisen schließlich auch zurück, trotz all unser Drohungen. Sie versicherten, vor Atemnot zu ersticken, obgleich sie uns wenige Stunden zuvor voll Mitleid betrachtet und behauptet hatten, daß die Weißen nicht einmal bis an die Schneegrenze kommen würden. Wir stiegen sehr hoch, höher als ich gehofft hatte. [...]
Der Hang wurde bald sehr steil. Man mußte sich mit Händen und Füßen festhalten. Wir verletzten sie uns alle, wir bluteten alle, die Steine hatten spitze Kanten. Man wußte nicht, wo man den Fuß hinsetzten sollte, die Felsbrocken waren in einem sehr feinen Sand beweglich. [...]
Auch die Atmung wurde stark beeinträchtigt, und was noch lästiger war, jeder fühlte sich schlecht, hatte das Bedürfnis, sich zu erbrechen. [...] Außerdem blutete uns das Zahnfleisch und die Lippen. Das Weiße im Auge war blutunterlaufen. [...] Wir haben niemals unser Zahnfleisch bluten sehen außer in einer Höhe von 2800 Toisen. Das ist ein wirklich skorburartiger Zustand. Wir stiegen noch eine halbe Stunde lang. Es wurde so neblig, daß wir den Gipfel nicht sahen. Die Reihen von Felsblöcken setzten sich noch immer fort. Es kam uns ein Schimmer von Hoffnung, daß wir den Gipfel erreichen könnten. Aber eine große Spalte setzte unseren Bemühungen ein Ende.

Reistagebuch, Besteigung des Chimborazo, 23. Juni 1802

 

Jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart, läßt auf ein höheres, noch unbekanntes schließen.

Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Band 1, 1845

 

 

Peru


Der Himmel war schön gestirnt, die Nacht recht frisch. Die Ameisen, die uns von Zeit zu Zeit stachen, ließen uns alle Muße, den Sternenuntergang zu beobachten. Ich hatte schon viele Nächte wie diese am Orinoko verbracht, wo wir das „zwischen Jaguar und Krokodil“ nannten, denn in der Tat bevölkerten diese zwei Tierarten den Wald und das Ufer […].

Eine alte Indianerin beklagte in der Sprache der Incas sehr poetisch unser Geschick, indem sie sagte, dass die Vorsehung diejenigen bestraft, die nicht in ihrem Land (Heimat) bleiben, dass nichts so schön ist, wie das Vaterland und das wir sicher „über einen großen Weg“ sterben würden.

Reisetagebuch, Reise von Loja nach San Felipe, 28.Juli – 14.August 1802


In der heißen Ebene der Küste sahen wir überall die traurigen Überreste von Kanälen, die die Peruaner in ein bis zwei Meilen Abstand vom Gebirge herabführten, um die Felder fruchtbar zu machen. Die spanischen Eroberer sorgten nicht nur nicht dafür, dass diese Kanäle unterhalten würden, sondern zerstörten sie, ebenso wie die Wege. Die Europäer sind außerhalb ihrer Länder ebensolche Barbaren wie die Türken und noch größere, denn sie sind fanatischer.

Reisetagebuch, Reise von Micuipampa über Cajamarca nach Trujillo an der Küste des Stillen Ozeans, 13.–24. September 1802



Welche Freude! Fast 18 Monate sind wir im Landesinneren gewesen. Man glaubt einen alten Freund zu sehen beim Anblick des Meeres, das Herz öffnet sich, die Vorstellungskraft erfüllt sich mit tausend Gedanken der Gemeinschaft, der Erleichterung, der Hoffnung, Freunde ankommen zu sehen, zu den Seinen zurückzukehren … Die Südsee lässt noch erhabenere Ideen entstehen. Auf dem Rücken der Anden, umgeben von den Überresten eines klugen und fleißigen Volkes, suchten unsere Augen jene glücklichen Inseln, wo noch diese Unschuld der Sitten besteht, diese Charakterstärke, die die Europäer hier zerstört haben.

Welche Summe von Freuden und Schmerzen! Wie klein und eng die wirkliche Welt im Vergleich zu derjenigen ist, die der Mensch, ergriffen in der Tiefe seiner Gefühle, hervorbringt.

Reisetagebuch, Reise von Micuipampa über Cajamarca nach Trujillo an der Küste des Stillen Ozeans, 13.–24. September 1802

 

 

Alles ist Wechselwirkung.

Reisetagebuch, Tal von Mexico, 1. – 5. August 1803

 



Über den Autor

Frank Gaudlitz

Geboren 1958 in Vetschau, hat 1987 bis 1991 Fotografie bei Arno Fischer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert. Seitdem hat er zahlreiche Fotografische Projekte realisiert Frank Gaudlitz gehört heute zu den wohl bekanntesten deutschen Fotografen der Gegenwart. Er arbeitet analog an selbstkonzipierten Langzeitprojekten insbesondere in Russland, Osteuropa und Südamerika. Seine großen fotografischen Folgen „Die Russen gehen“ (1991–94), „Warten auf Europa“ (2003–05), „Casa Mare“ (2005–08), „Sonnenstraße“ (2010) und „A Mazo“ (2013–15) spannen den Bogen zwischen epochalen Ereignissen und Einzelschicksalen. Sie wurden in Bildbänden und internationalen Einzelausstellungen veröffentlicht und vielfach ausgezeichnet. Sein neuestes Buchprojekt „Russian Times 1988–2018“ erschien 2019, und umfasst als Trilogie eine Zeitspanne von 30 Jahren und drei gesellschaftlichen Perioden in Russland. Für dieses Projekt erhielt Frank Gaudlitz  den Brandenburgischen Kunstpreis für Fotografie.

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Zuletzt aktualisiert 16.04.2020

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